Engelberg, 14. Oktober 2009



Mittwoch, 14. Oktober 2009

Autor

Matthias Jenny

Tag 1 der diesjährigen Konferenz stand ganz im Zeichen der naturwissenschaftlichen Hintergründe von Gewalt. Kurt R. Spillmann führte mit einem historischen Querschnitt in die Thematik ein. Eine seiner Thesen lautete, dass wir bei Überlegungen zum Phänomen Gewalt nie unser evolutionäres Erbe vergessen sollten. Dieses erfüllt uns mit einer latenten Fähigkeit zur Gewalttätigkeit, die unter falschen Umständen auch heute noch losbrechen kann. Ferner betonte er aber auch, dass die wichtigsten Entwicklungen eines Menschen in der frühen Kindheit stattfinden. Aufgrund der Plastizität des jungen Gehirns haben frühe Bezugspersonen einen grossen Einfluss auf die spätere Entwicklung eines Menschen.

Josef Reichholf ging anschliessend der Frage nach, weshalb die zwei uns am nächsten verwandten Primaten solch grosse Unterschiede im Aggressionsverhalten aufweisen: Während Schimpansen zu extremer Gewalt fähig sind, sind die Bonobos überwiegend friedlich. In seiner Erklärung dieser Unterschiede wies er auf die unterschiedlichen Umweltumstände hin, in denen die zwei Arten leben. Schimpansen leben in der Savanne, während Bonobos im tropischen Urwald zu finden sind. In der Savanne finden die Schimpansen Beutetiere mit hohem Proteingehalt. Diese Tiere sind aber nur unregelmässig verteilt, während die Nahrungsquellen der Bonobos im Urwald gleichmässiger vorkommen. Diese Tatsache führt dazu, dass sich für Schimpansen aggressive Raubzüge lohnen, während das bei den Bonobos nicht der Fall ist. Die evolutionären Vorläufer der Menschen, so wird angenommen, wurden von den proteinreichen Beutetieren in der Savanne aus den Urwäldern gelockt und haben in der Folge ähnliche agressive Tendenzen entwickeln, wie wir sie bei den Schimpansen finden. Der Este Madis Org wies in seiner Reflexion zu Reichholfs Vortrag auf die friedliche Protestbewegung der Esten gegen die Sowjet-Besetzungsmacht hin und zeigte sich zuversichtlich, dass die Menschen in der Lage sind, auch in anderen Situationen solche friedlichen Ansätze zu verfolgen.

Gerhard Roth ging in seinem Referat noch weiter ins Detail und fasste die neurobiologischen Grundlagen von Gewalt zusammen. So wies er beispielsweise darauf hin, dass die Amygdala, die unter anderem für die Gesichtserkennung und Empathie zuständig ist, bei manchem Menschen beschränkt ausgebildet ist. Diese Menschen haben Probleme, zwischen ängstlichen und aggressiven Gesichtsausdrücken zu unterscheiden. Dies hat zur Folge, dass die manchmal auf ängstliche Menschen mit impulsiv-reaktiver Gewalt reagieren. Ferner ist die Amygdala bei der Entstehung von Angst involviert. Interessanterweise wurde nun in fMRI-Studien festgestellt, dass bei Psychopaten die Amygdala keine Aktivität aufweist, wenn die Psychopaten mit einer bedrohlichen Situation konfrontiert werden. In seiner Replik brach Stefan Beljean eine Lanze für die soziologische Analyse von Gewalt. So forderte er beispielsweise, dass wir Gewalt nicht als Eigenschaft von Individuen sondern von Gruppen oder gar von Gesellschaften ansehen sollten. Somit muss bei der Entstehung von Gewalt auch der Kontext untersucht werden, in dem die Gewalt auftritt.

Auf diesen Kontext wies auch Peter Meyer hin in seinem Vortrag über den evolutionären Hintergrund der Gewalt. Zugleich startete aber auch er seine Analyse mit Überlegungen aus der Sicht der Evolutionsbiologie. So meinte er, dass Gewalt instrumental sein könne für die sexuelle Reproduktion, und aggressiven Individuen unter anderem deshalb ein evolutionärer Vorteil zukomme gegenüber friedlicheren Individuen. In einer rasanten Fahrt durch die Menschheitsgeschichte fasste er anschliessend die Rolle zusammen, die die Gewalt in prähistorischen Gesellschaften, in frühen Staaten und in der Gegenwart spielte und spielt.

Die Kritik in meiner Replik war zwar an Peter Meyer gerichtet, betraf aber auch einige Thesen von den früheren Referenten. Auch ich habe versucht, die Legitimität traditioneller sozialwissenschaftlicher Herangehensweisen an das Thema Gewalt zu verteidigen. Ich habe unter anderem darauf hingewiesen, dass die Naturwissenschaften Mühe hätten, die grosse Variation von Gewaltphänomenen befriedigend zu erklären. Ausserdem habe ich Zweifel daran angebracht, ob die Naturwissenschaften, die hautsächlich mit kausalen Begriffen operieren, den intentionalen und normativen Charakter von menschlicher Gewalt erfassen können.

Meine Thesen waren im Kontext der heutigen Vorträge wohl einigermassen radikal. Kritische Reaktionen liessen dementsprechend auch nicht lange auf sich warten. Die Dichotomie zwischen Natur- und Sozialwissenschaften sei von keinerlei Nutzen, meinte etwa Gerhard Roth. Das überwiegend kritische Feedback war aus wissenschaftssoziologischer Perspektive sehr interessant. Naturwissenschaftler scheinen heutzutage, wo Natur- und Sozialwissenschaftler oftmals zusammenspannen und die „science wars“ längst vorüber zu sein scheinen, philosophischer Kritik an einer solchen engen Zusammenarbeit gegenüber grundsätzlich abgeneigt zu sein. Deshalb wage ich die Vermutung zu äussern, dass die Sozialwissenschaften einst entweder komplett in den Naturwissenschaften aufgehen oder aber aufgrund der Grenzen, auf die die Naturwissenschaftlern mit ihren Methoden stossen, die philosophische Verteidigung von „traditionellen“ sozialwissenschaftlichen Analysen vielleicht doch wieder ernst genommen wird.

Interessant sind in diesem Zusammenhang Pius Segmüllers Thesen zum Thema Sport und Gewalt, die er an der öffentlichen Abendveranstaltung dargelegt hat. Eine These lautete beispielsweise: „Sicherheit braucht Menschen“. Insgesamt operierte Segmüller fast ausschliesslich mit den Begriffen der „soften“ Sozialwissenschaften. Ob er damit ein Defizit in seiner naturwissenschaftlichen Bildung offenbarte, oder ob eine solche sozialwissenschaftliche Analyse von Gewalt nicht doch von grossem Nutzen sein könnte, wurde am heutigen Tag nicht entschieden. Ich hätte deshalb nichts dagegen, wenn die „science wars“ nochmals neu und vor dem Hintergrund der aktuellen natur- und sozialwissenschaftlichen Forschung ausgetragen würden.

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